Traditionelle Zeidlerei in Russland
Mit Bienen um die Welt
Honig ist seit jeher ein begehrtes Gut: Schon Höhlenmalereien, die auf die Zeit zwischen 10.000 und 6.000 v. Chr. datiert werden, zeigen wie Steinzeitmenschen ein Bienennest ausrauben, um an den süßen Honig zu kommen. Mit der Sesshaftwerdung der Menschen entwickelte sich auch die Bienenhaltung, die für beide Seiten Vorteile mit sich brachte: Während die Biene Schutz und Pflege erhielt, kam der Mensch im Gegenzug einfacher an den leckeren Honig.
Über die Zeit hinweg haben sich unter den verschiedensten natürlichen Gegebenheiten und kulturellen Hintergründen einzigartige Imkereipraktiken entwickelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Wie wird Bienenhaltung also in anderen Ländern betrieben? Altbewährte Imkerraditionen, neue Trends bei der Bienenhaltung, spannende Kuriositäten oder sogar lebensgefährliche Honigernten - wir nehmen Dich mit auf eine spannende Reise rund um die Welt. Heute: Russland.
Länderfakt
In Russland wird heute noch nach der alten Tradition der Zeidler geimkert.
Steckbrief
Land: Russland
Region: Baschkirien
Klima: kalt, gemäßigt
Heimische Honigbiene: Dunkle Honigbiene oder Burzyan-Biene (Apis mellifera mellifera)
Trachtpflanzen: Winterlinde, Steinlinde
“Biene” in der Landessprache: пчела [pchela]
“Honig” in der Landessprache: медовый [medovyy]
Typische Honigsorten: Lindenblüte
Unberührte Natur für Bienen & Co.
Westlich des Uralgebirges befindet sich die russische Republik Baschkortostan, die auch Baschkirien genannt wird. Hier liegt das Biosphärenreservat Schulgan Tasch: Weitläufige Wälder aus Eschen, Kiefern, Linden und Birken erstrecken sich ebenso über die wilde Landschaft wie Wiesen aus zahlreichen Kräutern und Gräsern - ein vielfältiges Nektarbuffet für Bienen und andere Bestäuber. Die abwechslungreiche Flora und Fauna ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb das Biosphärenreservat bei Besuchern so beliebt ist. Auch ein umfangreiches Höhlensystem mit steinzeitlichen Malereien gibt es zu entdecken. Baschkortostan zeichnet sich außerdem durch seine traditionsreiche Art der Bienenhaltung aus: die Zeidlerei.
Vom Baum zur Bienenbeute
Meist zu Pferde bahnt sich der Zeidler einen Weg durch die dichten Wälder des Urals. Die Wege zwischen den Bienenvölkern sind lang und die großen Distanzen auf diese Weise einfacher zu bewältigen. Doch wie kommen die Bienen überhaupt in ihre Beuten? Kaufen muss der Waldimker die Bienenvölker dafür jedenfalls nicht. Die Völker der Dunklen Biene wählen einer der vielen Baumbeuten, die die Zeidler für sie anfertigen - und das ist ziemlich viel Arbeit.
Zuerst muss ein passender Baum mit einem dicken Stamm ausgekundschaftet werden. Ist dieser gefunden, heißt es klettern. Bis in Höhen von 16 Metern steigen die Zeidler, ausgerüstet mit Holztritt und Ledergürtel (Kiram), den ausgewählten Baum hinauf. Die große Entfernung zum Boden soll hungrige Bären von der Plünderung der Bienennester abhalten. Oben angekommen schlägt der Zeidler mit einer scharfen Klinge oder Axt eine große rechteckige Öffnung in die Rinde des Baumes und höhlt das entstandene Loch sorgfältig aus. Anschließend wird für die passende Inneneinrichtung gesorgt: Kanthölzer sollen den Arbeiterbienen als Rohbau dienen, an dem sie später ihre Waben anbringen. Um sicherzustellen, dass möglichst bald ein Bienenvolk einzieht, platziert der Zeidler im Inneren der Beute einige Löffel Honig: Finden Kundschafterbienen die süße Nahrung, bringen sie schon kurz darauf das ganze Volk mit. Bis dahin wird die fertige Baumbeute noch mit Brettern verschlossen und eventuell sogar mit einem Metallgitter versehen, wichtige Schutzmaßnahmen vor Bären und Kälte. In der Region Baschkortostan kann es sehr frostig werden: Zwischen Oktober und April sinken die Temperaturen gerne mal auf -35 °C. Damit die Bienen trotzdem den Weg in die Beute finden, wird in eines der Bretter ein Flugloch gebohrt.
In Baschkortostan ist mehr als ein Zeidler unterwegs. Um den anderen Kollegen daher zu signalisieren, dass Baum und Bienen schon vergeben sind, wird mit mit der Axt das Familienzeichen der Zeidler in den Baum geschlagen - ein feierlicher Abschluss zur Fertigstellung der Beute. Und dann heißt es: Warten auf das Bienenvolk.
Die Dunkle Biene des Urals
Die Bienenart, die später die Baumbeute bewohnen wird, ist die Dunkle Europäische Biene (Apis mellifera mellifera). Anders als im Rest der Welt, wo ihr Genpool meist durch Kreuzungen verarmt wurde, soll es in Russland noch eine reine Population dieser Bienenart geben. Dort ist die sogenannte Burzyan-Biene in den Waldregionen des südlichen Urals unter Schutz gestellt.
Auf die kalten, langen Winter in dieser Region ist die Apis mellifera mellifera dank ihrer guten Taktik bestens vorbereitet: Ist das Trachtangebot im Frühjahr noch unsicher, legt die Bienenkönigin vorerst wenige Eier. Blüht im Juni die Linde und sorgt für eine reichhaltige Tracht über mehrere Monate hinweg, macht sich Ihre Königliche Hoheit eifrig ans Brutgeschäft. Durch die große Anzahl an Bienen können etliche Wintervorräte gesammelt werden, die eine lückenlose Versorgung des Volkes garantiert. Dennoch gehen die Dunklen Bienen sehr sparsam mit ihren Reserven um, sodass das Brutgeschäft zum Winter hin wieder abnimmt.
Bienenarten im Überblick
Herbstzeit ist Honigzeit
Haben es sich die Bienenvölker in den Baumhöhlen, auch Bortyes genannt, bequem gemacht, werden sie nur ein einziges Mal im Jahr von dem Zeidler gestört.
Im Gegensatz zu ihren domestizierten Verwandten brauchen die wilden Völker der Dunklen Honigbiene keine Pflege von ihrem Bienenhalter. Im Herbst, meist im September, beginnt in der Region rund um Schulgan Tasch die Honigernte. Die modernen Zeidler klettern erneut hinauf zu ihren Bienen, öffnen die Holzläden und entfernen das Maschengitter vor der Beute. Mithilfe eines Smokers werden die aufgebrachten Bienen beruhigt und einige Honigwaben aus der Baumbeute entnommen - doch nicht zu viele, denn das Bienenvolk soll möglichst lange erhalten bleiben. Die Freude des Zeidlers über das Gold Baschkiriens ist groß! Dank des reichhaltigen Angebots an Nektar und der verschiedenen Waldtrachten besitzt der Honig aus den Baumbeuten ein einzigartiges, herbes Aroma. Und das scheint sehr begehrt zu sein: In Moskau zahlt man für ein Kilogramm des flüssigen Goldes bis zu 135 Euro.
Bienenhaltung im Einklang mit dem russischen Winter
Trotz des hohen Werts des Baschkirischen Goldes sind die Einnahmen durch die Honigproduktion für die russischen Zeidler bei Weitem nicht das Wichtigste, denn über die Bedeutung der Biene für Natur und Mensch wissen sie bestens Bescheid. Nicht umsonst wurden die Traditionen der Vorfahren zum Schutz der baschkirischen Bienen angepasst: Schon lange werden bei der Honigernte deshalb nicht mehr alle Waben aus den Baumbeuten entnommen. Auf diese Weise sorgen die Zeidler dafür, dass die Bienen ausreichend Vorräte für den eisigen, russischen Winter haben und der Fortbestand der Dunklen Biene auch für das nächste Jahr gesichert ist. Abgesehen von der Honigernte bleiben die Bienen das ganzes Jahr über ungestört und werden der Natur überlassen. Auch in vielen anderen Ländern, z.B. in Polen, findet die baschkirische Methode der Zeidlerei großen Anklang, denn man möchte sowohl wildlebende Honigbienen als auch das Ökosystem Wald erhalten.