Der Stichschmerz-Index

Masochismus oder Wissenschaft?

Stichschmerzindex

Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich war als Kleinkind ein chronischer In-Bienen-Treter - auch wenn mich das schlechte Gewissen noch heute plagt. Der Garten meiner Eltern war übersäht mit weißen Kleeblüten und einer Vielzahl der emsigen Sammlerinnen. Dementsprechend oft bin ich beim Toben und Tollen im Garten versehentlich in eine Biene gelaufen. Viele werden sich jetzt denken „Ja Mann, ich auch!“ und können die schmerzliche Erfahrung wohl gut nachempfinden. Denn bereits Kleinkinder besitzen ein Schmerzgedächtnis, vergessen Schmerzen nicht und sind später meist empfindlicher als ihre Altersgenossen. Doch wie schmerzvoll ist ein Bienenstich für einen ausgewachsenen Menschen? Oder anders gefragt – Wer zum Teufel würde sich freiwillig von Insekten und Bienen stechen lassen um darüber eine Studie zu veröffentlichen?

Justin Orvel Schmidt hat genau das getan. Nein, er ist kein masochistisch veranlagter Bienenfetischist. Der US-amerikanische Insektenforscher arbeitet als Studienleiter des Southwest Biological Institute und studiert die chemischen Abwehrmechanismen von Ameisen, Bienen und Wespen. Während seiner Forschungsarbeit wurde er von rund 150 verschiedenen Insektenarten gestochen. Um sein Schmerzempfinden der einzelnen Stiche festzuhalten schuf er den „Schmidt Sting Pain Index“. Diese wurde 2015 mit dem IG Nobelpreis für wissenschaftliche Leistungen, die „Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen“ ausgezeichnet.
Dabei ordnete Schmidt die Schmerzintensität in vier Stufen ein und beschreibt den Schmerz so bildlich wie Weinkenner die Geschmacksnuancen bei einer Verkostung. Was auf den ersten Blick leicht masochistische Züge vermuten lässt, ist bei genauerem Hinsehen eine Hilfestellung. Dank seiner ebenso unterhaltsam wie furchteinflößenden Beschreibungen können wir seinen Schmerz nachempfinden. Schmerzfreie Insektenstiche wurden in der Skala gar nicht erst berücksichtigt.

Blutbiene / Furchenbiene - Schmerz 1.0: Leicht, flüchtig, fast fruchtig.
„Als ob ein winziger Funke ein einziges Haar auf dem Arm ansengt.“

Leichter Schmerz? Alles klar, aber fruchtig? Wie kann ein Schmerz fruchtig sein? So fruchtig wie in eine übersaure Zitrone zu beißen vielleicht. Mit angesengten Haaren komm jedenfalls jeder klar, kein Problem.

Feuerameisen - Schmerz 1.2: Scharf, plötzlich, etwas beunruhigend.
„Als ob man über einen Flokatiteppich läuft, sich statisch auflädt und einen elektrischen Schlag abbekommt.“

Na gut, da kann ich mitreden. An so manchem Sommertag beim Picknicken erwischte mich eine dieser kleinen Ameisen an den Beinen. Unangenehm, aber wohl ein zu ertragendes Übel - hat man die Wahl zwischen einem Platz in der glimmenden Sonne oder unter einer schattenspendenden Linde. Während der Wintermonate lade ich mich oft elektrisch auf und verteile kleine Schocks an Freunde und Kollegen. Vielleicht sollte ich mal über ein Feuerameisenkostüm nachdenken. Immerhin ist gerade Fasching.

Knotenameisen - Schmerz 1.8: Selten-stechend, irgendwie hoher Schmerz.
„Als ob jemand eine Heftklammer in deine Wange schießt.“

„Seltene Schmerzen“ sind ja glücklicherweise selten. Wenn man sich beispielsweise den kleinen Zeh an einer Kante anrennt. Ärgerlich und idiotisch, aber zumindest selten. Doch wenn es einen hohen Schmerz gibt, muss es wohl auch einen tiefen Schmerz geben. Jedenfalls kann ich bezüglich der Heftklammer nicht mehr mitreden. Von diversen Internetvideos, in denen sich Halbstarke gegenseitig Heftklammern in die Stirn tackern, möchte ich euch jetzt mal verschonen.

Honigbiene / Kurzkopfwespe - Schmerz 2.0: Reichhaltig, herzhaft, heiß.
„Als ob jemand eine Zigarre auf deiner Zunge auslöscht. Wie ein abgebrochener Streichholzkopf, der auf deiner Haut abbrennt.“

Der Schmerz der Honigbiene scheint mir wie ein gutes Chili con carne. Es ist immer reichhaltig vorhanden, ist besonders herzhaft und mit der richtigen Schärfe kann es einem an kalten Winterabenden damit ganz warm ums Herz werden. Die Wespen teilen zweifellos meine Liebe zu gutem Chili, bei den Bienen bin ich mir da nicht so sicher.

Ernteameisen - Schmerz 3.0: Ätzend, brennend, unerbittlich.
„Als ob jemand einen Bohrer benutzt um einen eingewachsenen Zehennagel freizulegen oder man einen Becher mit Salzsäure über eine Schnittwunde schüttet.“

Ab jetzt geht’s ans Eingemachte. Ätzend, brennend, Salzsäure? Nein Danke, lieber nicht. Man frägt sich doch ernsthaft, woher dieser Mann die ganzen Schmerzvergleiche nimmt. Ich will nicht hoffen, dass er diese auch im Selbstversuch erprobt hat, um einen optimale Vergleichsform zu finden.

Tarantulafalke - Schmerz 4.0: Heftig, blendend, furchtbar elektrisch.
„Als ob jemand einen laufenden Haartrockner in dein Schaumbad fallen lässt.“

Heftig muss der Schmerz dieses Insekts wahrlich sein – und vor allem endgültig. Das Staatsinsekt von Mexiko trägt nicht umsonst den Spitznamen „Tarantulafalke“. Die Wespenart lähmt die ihrerseits hochgiftigen Vogelspinnen mit ihrem Gift und platziert an ihrem Rücken ein Ei. Die Larve schlüpft und ernährt sich bis zur Verpuppung von der Spinne. Nach Ameisen, Wespen und Bienen nun auch noch Spinnen und Parasiten. Großartig…

Tropische Riesenameise oder „Bullet Ant“- Schmerz 4.0+: Rein, intensiv, strahlend.
„Als ob man über glühende Kohlen läuft und dabei einen sieben Zentimeter langen, rostigen Nagel in der Ferse stecken hat.“

Das scheint dann wohl der schmerzhafteste Insektenstich überhaupt zu sein. Insektenforscher Schmidt wurde von dieser großen Ameisensorte bereits mehrmals gestochen. Es muss ihn wohl viel Überwindung gekostet haben, sich für den Index erneut stechen zu lassen – denn wer hat schon gerne einen rostigen Nagel in seiner Ferse? Eine im Netz gefundene Beschreibung setzt den Schmerz mit einem Einschuss einer Pistole gleich.
Bei allen Stichen hat Schmidt sich einem Selbstversuch unterzogen, die Insekten gereizt und zur Verteidigung provoziert. Bienen sind von all den aufgeführten Giftstechern wohl die friedfertigsten, denn die pelzigen Gesellen sind wesentlich entspannter als so manche Ameise, die bereits über mein Badehandtuch kletterte. Zieht man Bilanz, dann ist der Schmerz eines Bienenstichs wohl doch gar nicht so schlimm. So amüsant die Schmerzbeschreibungen auch sein mögen, so ist der „Schmidt Sting Pain Index“ doch ein  selbstloser Einsatz im Dienste der Wissenschaft und sucht seines Gleichen. Hut ab, Herr Schmidt.

Bild: THE SCHMIDT INSECT STING PAIN INDEX - COMPOUND INTEREST Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives Licence

Ein Beitrag von Michael von nearBees
vom 12.02.2015